Pfarrbüro der Seelsorgeeinheit
Ravensburg West
Schwalbenweg 5
88213 Ravensburg
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4. Advent
Lesung: Mi 5, 1-4a
So spricht der Herr:
Du, Bétlehem-Éfrata, bist zwar klein unter den Sippen Judas, aus dir wird mir einer hervorgehen, der über Israel herrschen soll.
Seine Ursprünge liegen in ferner Vorzeit, in längst vergangenen Tagen.
Darum gibt der Herr sie preis, bis zu der Zeit, da die Gebärende geboren hat.
Dann wird der Rest seiner Brüder zurückkehren zu den Söhnen Israels.
Er wird auftreten und ihr Hirt sein in der Kraft des Herrn, in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes.
Sie werden in Sicherheit wohnen; denn nun wird er groß sein bis an die Grenzen der Erde.
Und er wird der Friede sein.
Evangelium: Lk 13, 10-17
Am Sabbat lehrte Jesus in einer Synagoge. Und siehe, da war eine Frau, die seit achtzehn Jahren krank war, weil sie von einem Geist geplagt wurde; sie war ganz verkrümmt und konnte nicht mehr aufrecht gehen. Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sagte: Frau, du bist von deinem Leiden erlöst. Und er legte ihr die Hände auf. Im gleichen Augenblick richtete sie sich auf und pries Gott. Der Synagogenvorsteher aber war empört darüber, dass Jesus am Sabbat heilte, und sagte zu den Leuten: Sechs Tage sind zum Arbeiten da. Kommt also an diesen Tagen und lasst euch heilen, nicht am Sabbat! Der Herr erwiderte ihm: Ihr Heuchler! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke? Diese Frau aber, die eine Tochter Abrahams ist und die der Satan schon seit achtzehn Jahren gefesselt hielt, sollte am Sabbat nicht davon befreit werden dürfen? Durch diese Worte wurden alle seine Gegner beschämt; das ganze Volk aber freute sich über all die großen Taten, die er vollbrachte.
Predigt:
Liebe Christinnen und Christen!
„Mehr Gewalt gegen Frauen“ –
so war ein Artikel in der „Schwäbischen Zeitung“ vor ungefähr drei Wochen überschrieben, in dem über die Ergebnisse einer Studie zur Gewalt in Partnerschaften in Deutschland berichtet wird.
Dieser Studie zufolge haben im Jahr 2020 innerhalb 1 Stunde im Durchschnitt 13 Frauen in ihrer Partnerschaft Gewalt erleben müssen.
Und: 139 Frauen und 30 Männer sind im zurückliegenden Jahr bei Auseinandersetzungen in ihrer Partnerschaft gestorben.
Schockierende Zahlen – meine ich.
Und dabei scheint die Corona-Pandemie für den Anstieg der Gewalttaten im häuslichen Umfeld keine entscheidende Rolle gespielt zu haben.
Wörtlich heißt es in diesem Zeitungsartikel vom 24. November:
„Während der Corona-Lockdowns gab es den Angaben nach keinen eindeutigen Anstieg der polizeilich erfassten Fälle. Es wird aber von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen.“
(Schwäbische Zeitung vom 24.11.2021)
Nicht nur um die Frauen, sondern auch um die Kinder, die unter häuslicher Gewalt leiden, sorgt sich ein Verein hier, in Ravensburg, dem wir in unserer Seelsorgeeinheit Ravensburg/West heute, am 4. Advent, in der Predigt und in unserer wachsenden Krippe in der Dreifaltigkeitskirche ein „Denk-mal“ setzen:
Dem Verein „Frauen und Kinder in Not e.V.“
Seit 1982 gibt es diesen Verein in Ravensburg – er wird also nächstes Jahr 40 Jahre alt.
Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kinder, junge Mädchen und Frauen zu unterstützen, die hier, im Kreis Ravensburg, Opfer von häuslicher Gewalt werden.
Und diese Unterstützung hat zwei Schwerpunkte:
Der Verein betreibt zum einen das Ravensburger Frauenhaus, in dem in diesem Jahr 26 Frauen und 30 Kinder, bzw. junge Mädchen in Notsituationen aufgenommen wurden – darunter auch Frauen und Kinder, die aus anderen Ländern zu uns, nach Deutschland gekommen sind.
Darüberhinaus engagiert sich der Verein „Frauen und Kinder in Not“ in der Beratung von Frauen, die telefonisch oder in persönlichen Gesprächen Unterstützung in ihrer Notsituation suchen.
Diese Beratungs-und Interventionsstelle Ravensburg ist eine Einrichtung, in der im vergangenen Jahr 204 Klientinnen Rat gesucht haben – über 80% dieser hilfesuchenden Frauen sind Deutsche.
Finanziert wird diese wertvolle Arbeit der Sozialarbeiterinnen und der Erzieherin mit ihrem Team vom Landkreis Ravensburg, aber auch mit Bußgeldern und mit Spenden. Seit 2 Jahren arbeitet der Verein auch in einer Beratungsstelle in Wangen. Die dortige 50%-Stelle wird ausschließlich mit Spenden und Eigenmitteln finanziert. In diesem Jahr haben dort 160 telefonische und persönliche Beratungen stattgefunden.
Dass der Landkreis Ravensburg jetzt, im Dezember, eine weitere 50%-Stelle für den Verein genehmigt hat, ermöglicht den Mitarbeiterinnen, ihre Arbeit mit den Kindern und den Frauen aller Kulturen und aller Religionen zu intensivieren.
Vor allem die Betreuung der Kinder ist zeitintensiv, weil manche Verhaltensauffälligkeiten zeigen oder Entwicklungsdefizite haben. Andere sind traumatisiert.
Ungefähr 30 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und einzelne Mitarbeiter unterstützen die Arbeit des Teams der Hauptberuflichen.
Nur durch diese ehrenamtlichen Dienste ist es dem Verein möglich, an allen Tagen in der Woche und auch außerhalb der regulären Arbeitszeiten der hauptberuflichen Mitarbeiterinnen Telefonanrufe entgegenzunehmen und Frauen in akuter Bedrohung im Frauenhaus Sicherheit zu geben.
Im Durchschnitt leben die Frauen 2 Monate im Frauenhaus – manche auch länger, weil sie keine eigene Wohnung in und um Ravensburg finden.
Es gibt eine Aussenwohnung, die der Verein angemietet hat und in der einzelne Frauen übergangsweise leben können, nachdem sie das Frauenhaus verlassen und eine eigene Wohnung suchen. Auch dort werden sie weiterhin von den Fachleuten des Vereins begleitet. Aber diese Wohnung ist zu klein.
Durch die wertvolle Arbeit des Vereins kann es den gedemütigten Frauen und den nach Sicherheit suchenden Kindern gelingen, in ihrem Leben noch einmal einen neuen Anfang zu wagen.
Ein neuer Start ins Leben wird einer Frau geschenkt, von der Lukas in unserem heutigen Evangelium erzählt und die dabei vor Freude jubelt.
Zu Ihrer Erinnerung: Jesus lehrt in einer Synagoge – wir erfahren nicht, in welcher Stadt sich das alles ereignet.
Dort, in der Synagoge, entdeckt er sie – diese Frau, deren Namen wir leider nicht kennen und die ihre entstellte Gestalt ganz offensichtlich nicht verbergen kann. Sie leidet. Und aus eigener Kraft kann sie sich nicht aufrichten.
Wörtlich heißt es im Evangeliumstext:
„Dort saß eine Frau, die seit 18 Jahren krank war, weil sie von einem Dämon geplagt wurde.“
Mich hat beim Schreiben meiner Predigt die Formulierung „von einem Dämon geplagt“ neugierig gemacht. Und ich habe deshalb die Stelle im griechischen Urtext nachgelesen. Die Krankheit der Frau heißt im Griechischen: πνευμα ασθενειας
Das heißt wörtlich übersetzt: „schwach sein infolge eines Geistes“.
Ganz offensichtlich waren die Menschen damals davon überzeugt, dass bestimmte Krankheiten durch Kräfte ausgelöst werden, denen kein Mensch beikommen kann: Verantwortlich für solche Krankheiten sind dann „Geister“ oder – wie es im Bibeltext heißt – „Dämonen“.
Bis in unsere Zeit hinein hat dieses Denken Spuren hinterlassen:
Denken Sie an den „Hexen-Schuss“, von dem wir auch heute noch sprechen.
Die Frau in der Synagoge jedenfalls war gezeichnet von ihrer Krankheit. Vermutlich hat ihre verkrümmte Gestalt irgendwann dazu geführt, dass sie von anderen Menschen lieber übersehen wurde. Vielleicht ist ihr auch viel zu oft und viel zu deutlich gesagt worden, dass sie sich - als Frau - unterzuordnen hat.
Und dann verliert sie ihren aufrechten Gang und ihr Selbstbewusstsein immer mehr…
Aber Jesus sieht diese Frau – irgendwo unter den vielen Leuten.
„Und er legte ihr die Hände auf.“ –
so erzählt es Lukas in unserem Bibeltext.
Die heilenden Hände des Mannes aus Nazareth sind ganz offensichtlich liebe-voller und mächtiger als diese dämonischen Kräfte, denen die Frau nicht beikommen konnte.
Jesus aber macht ihr Mut:
„Frau, du bist befreit von deiner Schwachheit.“ –
ein neuer Anfang! Unerwartet! Die Frau jubelt und schaut dankbar zum Himmel. Ihr ist das Leben neu geschenkt worden – und das in einer Gesellschaft, die so offen war für Erniedrigung und Entwürdigung von Frauen!
Die Reaktion anderer Menschen auf das Handeln Jesu lässt allerdings nicht lange auf sich warten:
Für den Synagogenvorsteher ist es unerträglich, dass Jesus das Sabbatgebot in seiner Synagoge nicht einhält. Für ihn gibt es keine Ausnahme vom Gesetz. Der leitende Mann in der Synagoge bleibt bei dem, was in seiner Religion schon immer Gültigkeit hatte.
Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor??
Der Verantwortliche für die Synagoge merkt gar nicht, dass mit diesem fremden Mann in seiner Synagoge Neues beginnt. Als Vorsteher meint er, er müsse die Tradition bewahren - um jeden Preis. Und er ist zu unsensibel und zu verbohrt, um zu begreifen, dass mit dem Mann aus Nazareth Gott aufbricht und göttliche Kräfte in unserer Welt ankommen – vor allem bei denen, die schwach sind, oder verkrümmt oder gedemütigt. Und deshalb muss sich der Synagogenvorsteher von Jesus anhören, dass er ein „Heuchler“ sei. Unerträglich ist es ganz offensichtlich für Jesus gewesen, dass dieser mächtige und vermutlich auch fromme Repräsentant seiner Religion menschengemachte Vorschriften gegen liebevolle göttliche Kräfte ausspielt. Er hat sich wohl vom dankbaren Jubel der befreiten Frau nicht berühren lassen.
Liebe Christinnen und Christen!
Der Verein „Frauen und Kinder in Not“ in Ravensburg lässt sich berühren – von den Ängsten und den körperlichen und seelischen Verletzungen, die Kinder, Mädchen und Frauen in unserer Stadt aushalten müssen, und er macht eine ganz wertvolle Arbeit für unsere Gesellschaft. Ich kann nicht wissen, ob sich manche Frauen in diesem Verein auch an Jesus orientieren.
Entscheidend ist für mich:
Sie sehen die Not der Menschen in unserer Zeit – so, wie sie Jesus damals auch gesehen hat – und sie handeln, so, wie er auch.
Und: Der Verein macht uns alle aufmerksam auf das Schicksal der Kinder und Frauen in unserem Umfeld:
„Orange the World“ – vom 25. November bis 10. Dezember diesen Jahres hat sich die „kleine Welt in Ravensburg“ orange gefärbt: Der Verein „Frauen und Kinder in Not“ und die Stadt Ravensburg haben sich an der weltweiten Aktion gegen Gewalt an Frauen beteiligt. Deshalb waren in dieser Zeit, z.B. das Frauentor, das Konzerthaus, die Zehntscheuer oder auch die Jodokskirche orange beleuchtet.
Körperliche und psychische Gewalt gegen Frauen ist eine Menschenrechtsverletzung – das ist die Botschaft dieser weltweiten Aktion.
Wir Christinnen und Christen haben von Jesus selber den Auftrag, uns für die Schwachen und die Gedemütigten einzusetzen.
Und vielleicht erstrahlt ja unser Kirchturm in Dreifaltigkeit im nächsten Jahr auch in oranger Farbe. Mal sehen…
Denn: Mystik und Politik, Spiritualität und Solidarität gehören im Sinne Jesu untrennbar zusammen.
Ich wünsche Ihnen allen eine besinnliche restliche Adventszeit.
Amen.
© A. Böhm, 2021
HIER finden Sie die Predigt im pdf-Format.