Katholische Seelsorgeeinheit Ravensburg West

"Denk-mal: Gott bricht auf“

2. Advent

Lesung: Bar 5, 1–9

Leg ab, Jerusalem, das Kleid deiner Trauer und deines Elends und bekleide dich mit dem Schmuck der Herrlichkeit, die Gott dir für immer verleiht!
Leg den Mantel der göttlichen Gerechtigkeit an; setz dir die Krone der Herrlichkeit des Ewigen aufs Haupt!
Denn Gott will deinen Glanz dem ganzen Erdkreis unter dem Himmel zeigen.
Gott gibt dir für immer den Namen: Friede der Gerechtigkeit und Herrlichkeit der Gottesfurcht.
Steh auf, Jerusalem, und steig auf die Höhe! Schau nach Osten und sieh deine Kinder: Vom Untergang der Sonne bis zum Aufgang hat das Wort des Heiligen sie gesammelt. Sie freuen sich, dass Gott an sie gedacht hat.
Denn zu Fuß zogen sie fort von dir, weggetrieben von Feinden; Gott aber bringt sie heim zu dir,
ehrenvoll getragen wie in einer königlichen Sänfte.
Denn Gott hat befohlen: Senken sollen sich alle hohen Berge und die ewigen Hügel und heben sollen sich die Täler zu ebenem Land, sodass Israel unter der Herrlichkeit Gottes sicher dahinziehen kann.
Wälder und duftende Bäume aller Art spenden Israel Schatten auf Gottes Geheiß.
Denn Gott führt Israel heim in Freude, im Licht seiner Herrlichkeit; Erbarmen und Gerechtigkeit kommen von ihm.


Evangelium: Joh 9,1-7

Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst oder seine Eltern, sodass er blind geboren wurde? Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden. Wir müssen, solange es Tag ist, die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat; es kommt die Nacht, in der niemand mehr wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Als er dies gesagt hatte, spuckte er auf die Erde; dann machte er mit dem Speichel einen Teig, strich ihn dem Blinden auf die Augen und sagte zu ihm: Geh und wasch dich in dem Teich Schiloach! Das heißt übersetzt: der Gesandte. Der Mann ging fort und wusch sich. Und als er zurückkam, konnte er sehen. Die Nachbarn und jene, die ihn früher als Bettler gesehen hatten, sagten: Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte? Einige sagten: Er ist es. Andere sagten: Nein, er sieht ihm nur ähnlich. Er selbst aber sagte: Ich bin es.

Predigt

Liebe am 2. Advent versammelte Christinnen und Christen!

Der Mann, von dem ich Ihnen jetzt erzähle, ist Notarzt und Intensivmediziner in Berlin – 1969 in Nürnberg geboren – und er heißt Tankred Stöbe.

Was ihn zu einem herausragenden Mediziner in Deutschland macht, ist sein ehrenamtlicher Einsatz als Arzt für Menschen in Notsituationen überall auf der Welt.

Im Auftrag der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ ist der Internist seit 2002 bis heute in 18 verschiedenen Ländern dieser Erde jeweils mehrere Wochen unterwegs gewesen, weil er dazu beitragen will, dass Menschen in Notsituationen ärztlich besser versorgt werden können.

Bei Einsätzen im Mittelmeer oder in Libyen hat Tankred Stöbe miterlebt, in welche lebensbedrohliche Situationen Menschen kommen können, die vertrieben werden und auf der Flucht sind.

In der Corona-Pandemie im letzten Jahr ist es er gewesen, der die Corona-Hilfsmaßnahmen von „Ärzte ohne Grenzen“ in Asien koordiniert hat. Er kennt die Situation der Menschen im Jemen und genauso in Malawi. Und längst bevor die Virus-Mutation aus Südafrika bekannt wurde, hat er mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Corona-Pandemie weltweit niemals eingedämmt werden kann, solange in Afrika weniger als 5% der Bevölkerung geimpft ist.

Tankred Stöbe hat seine Erfahrungen als „Arzt ohne Grenzen“ in einem Buch veröffentlicht mit dem Titel:

„Mut und Menschlichkeit – als Arzt weltweit in Grenzsituationen“.

Und dieser Buchtitel verrät bereits seine persönliche Antwort auf die Frage von uns Menschen, was in unserem Leben wirklich zählt.

Sein Einsatz als Arzt und dieses Buch sind – meine ich – ein beeindruckendes Zeugnis für selbstlosen Mut, für berührende Menschlichkeit und für gelebte Solidarität mit Menschen aller Generationen, aller Kulturen und aller Religionen.

Und jetzt hören Sie Tankred Stöbe mit seinen eigenen Worten:

„Ich habe weniger Angst vor den Schwierigkeiten dieser Welt, weil ich gesehen habe, was Menschen in Extremsituationen leisten können.“

(aus: Tankred Stöbe, Mut und Menschlichkeit – als Arzt weltweit in Grenzsituationen, Fischer Verlage Juni 2020)

Von 2007 bis 2015 ist der Rettungsmediziner und Buchautor Präsident der deutschen Sektion von „Ärzte ohne Grenzen“ gewesen, und er hat 3 Jahre lang auch im internationalen Vorstand dieser Organisation mitgearbeitet.

Diesen „Ärzten ohne Grenzen“ mit ihrem weltweiten mutigen Einsatz für Menschlichkeit setzen wir, in unserer Seelsorgeeinheit Ravensburg/West ein „Denk-mal“ in unserer Predigtreihe im Advent und in unserer wachsenden Krippe.

Am 21.Dezember 1971 ist diese Organisation gegründet worden – also fast genau vor 50 Jahren. Eine Gruppe von Fachleuten aus der Medizin und dem Journalismus hatten die Idee, als unabhängige internationale Nothilfeorganisation in Kriegs- und Krisengebieten und bei Naturkatastrophen oder bei Pandemien Hilfe zu leisten.

„Ärzte ohne Grenzen“ sind überall dort aktiv, wo Menschenleben in Gefahr sind oder wo humanitäre Hilfe nötig ist.

In Zahlen:

Im Jahre 2020 hat die Organisation 10 Mio medizinische Behandlungen durchgeführt – chirurgische Eingriffe gehören dazu, die Begleitung von Geburten, Malaria-Behandlungen oder Impfungen.

In mehr als 70 Ländern dieser Erde arbeitet ein Team von Fachleuten aus den Bereichen Medizin, Pflege, Psychologie, Verwaltung und Logistik zusammen.

Alle Beteiligten tun ihren Dienst ehrenamtlich, und ihre Arbeit wird mit Spenden finanziert: Im Jahre 2017 waren das 1,5 Mrd Euro – davon wurden im gleichen Jahr 1,3 Mrd wieder ausgegeben.

Dieses Geld wird zuallererst für medizinische Nothilfe verwendet, aber auch für die Bereitstellung von sauberem Trinkwasser und für medizinische Aufklärung. Die Organisation sieht es darüberhinaus ebenfalls als ihre Aufgabe an, Menschenrechtsverletzungen oder Verletzungen des Völkerrechts öffentlich zu benennen.

„Ärzte ohne Grenzen“ betonen ausdrücklich:

Die Nothilfe wird geleistet ungeachtet der Herkunft, der politischen Überzeugung oder der Religion der Menschen, die unterstützt werden.

1999 hat die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ den Friedensnobelpreis verliehen bekommen.

 

Helfen in Not – das hat sich der Verein „Ärzte ohne Grenzen“ zur Aufgabe gemacht .

Helfen in Not -  das tut auch Jesus  im heutigen Evangeliumstext.

Und: Auch in unserem Bibeltext begegnet uns außergewöhnlicher Mut und berührende Menschlichkeit:

Mut beweist der von Geburt an blinde Mann, weil er sich auf Jesus einlässt und ihm blind vertraut.

Berührende Menschlichkeit erleben wir im Reden und im Handeln Jesu: Jesus sieht den Mann. Er spürt seine Not. Jesus berührt ihn und das hilft.

Wörtlich heißt es im Johannesevangelium:

„Als (Jesus) dies gesagt hatte, spuckte er auf die Erde; dann machte er mit Speichel einen Teig, strich ihn dem Blinden auf die Augen und sagte zu ihm: Geh und wasch dich.“

Der blinde Mann erlebt in der Begegnung mit Jesus Hilfe in seiner Not.

Für die Jüngerinnen und Jünger allerdings steht nicht die Heilung im Vordergrund. Sie beschäftigt viel mehr die Frage, warum dieser Mann überhaupt dieses Schicksal ertragen muss und warum er blind auf die Welt gekommen ist.

Und in ihrer Logik, muss das eine Folge von Schuld sein.

Wörtlich lässt Johannes die Jüngerinnen und Jünger fragen:

„Wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, so dass er blind geboren wurde?“

Da ist sie wieder – diese uralte Frage von uns endlichen Menschen:

Warum gibt es überhaupt Notsituationen?  Warum sterben so viele Menschen bei Naturkatastrophen? Warum gibt es tödliche Krankheiten und Pandemien? Und Jesus selber gibt seine Antwort auf dieses „Warum“ im heutigen Evangelium:

Krankheit ist niemals eine gottgewollte Strafe für Schuld – das stellt der Mann aus Nazareth in der Geschichte von der Heilung des blindgeborenen Mannes unmissverständlich klar.

Unser Gott bestraft uns Menschen nicht, indem er uns eine Krankheit oder eine Pandemie zumutet oder uns daran sterben lässt.

Sondern: „Das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.“

Wenn ich diese Verse im Johannesevangelium richtig deute, dann bricht unser Gott mit dem Menschen Jesus von Nazareth in die Welt auf, damit unsere Welt heiler wird und wir Menschen glücklicher leben können – auch wenn es trotzdem weiterhin Not und Krankheiten gibt.

Die Frage, warum dann mit dem Aufbrechen Gottes nicht alle Not und jedes Leiden aufhört, lässt auch Johannes in diesem Bibeltext unbeantwortet.

Kann es vielleicht sein, dass diese Frage nach dem „Warum“ grundsätzlich offen bleiben muss, damit wir Menschen Gott immer wieder neu denken lernen?? Nehmen wir einmal an: Wir Christinnen und Christen hätten alle unsere offenen Fragen im Zusammenhang mit unserem Gott geklärt, dann würden wir endliche Menschen unseren unendlichen Gott im Denken „in Besitz“ nehmen. Das ist aber einerseits philosophisch nicht möglich, und andererseits kirchenpolitisch gefährlich. Denn: Immer dann, wenn Menschen sich anmaßen, exakt definieren zu können, wo und wie Gott ist, dann neigen sie dazu, ihre Vorstellung von Gott als endgültig und nicht mehr diskutierbar zu erklären – womöglich sogar als gott-gewollt.

Und deshalb bleibt für mich unser christlicher Gott immer auch undurchschaubar und voller Wunder – obwohl er mit Jesus in unsere Welt aufgebrochen ist und sich uns Menschen menschlich gezeigt hat. Und das hat der Blinde im heutigen Evangelium erlebt: Aufbruch des Göttlichen  - mitten in seiner eigenen dunklen Welt!

 

Liebe  Christinnen und Christen,

unser Gott schickt uns keine Krankheiten und auch keine Pandemien, weil er uns bestrafen will, sondern er schickt uns in die Welt, damit wir in seinem Geist aufbrechen und die Liebe unter den Menschen und bei den Völkern ankommt.

Ich kann nicht wissen, ob in der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ auch einzelne Mitglieder ganz bewusst im Sinne Jesu unterwegs sind. Aber ich traue diesen mutigen  Männern und Frauen zu, dass sie die notleidenden Menschen nicht nur mit ihrem kompetenten Blick als Fachleute anschauen, sondern, dass sie ihnen ins Herz schauen – so, wie das Jesus ganz offensichtlich auch konnte.

Hören Sie jetzt zum Schluss noch einmal Tankred Stöbe:

„Die Not und das Leid eines anderen Menschen sind mein Anlass ihm zu helfen. Ich tue dies, ohne religiöse oder monetäre Versprechungen, sondern weil das Gegenüber mich dringend braucht und ich mich diesem Ruf weder entziehen will noch kann. …Mehr denn je sind wir heute Bewohner eines globalen Dorfes. Dieses Dorf ist voller Wunder und Schrecken. …Nie aber waren wir fähiger als heute, diesen Herausforderungen der Menschheit zu begegnen. Das Wissen ist da und auch die Mittel; was fehlt, ist der politische und menschliche Wille, dies auch umzusetzen. Und hier können wir anfangen, jeder Einzelne und an jedem Tag.“

(aus: Tankred Stöbe, Mut und Menschlichkeit, Fischer Verlage Juni 2020, Seite 175)

Ihnen allen wünsche ich eine besinnliche Adventszeit – und:
Bleiben Sie solidarisch und gesund!

Amen.

© A. Böhm, 2021

 

HIER finden Sie die Predigt im pdf-Format.