Pfarrbüro der Seelsorgeeinheit
Ravensburg West
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2. Advent
Lesung: Bar 5, 1-9
Leg ab, Jerusalem, das Kleid deiner Trauer und deines Elends und bekleide dich mit dem Schmuck der Herrlichkeit, die Gott dir für immer verleiht!
Leg den Mantel der göttlichen Gerechtigkeit an; setz dir die Krone der Herrlichkeit des Ewigen aufs Haupt!
Denn Gott will deinen Glanz dem ganzen Erdkreis unter dem Himmel zeigen.
Gott gibt dir für immer den Namen: Friede der Gerechtigkeit und Herrlichkeit der Gottesfurcht.
Steh auf, Jerusalem, und steig auf die Höhe! Schau nach Osten und sieh deine Kinder: Vom Untergang der Sonne bis zum Aufgang hat das Wort des Heiligen sie gesammelt. Sie freuen sich, dass Gott an sie gedacht hat.
Denn zu Fuß zogen sie fort von dir, weggetrieben von Feinden; Gott aber bringt sie heim zu dir, ehrenvoll getragen wie in einer königlichen Sänfte.
Denn Gott hat befohlen: Senken sollen sich alle hohen Berge und die ewigen Hügel und heben sollen sich die Täler zu ebenem Land, sodass Israel unter der Herrlichkeit Gottes sicher dahinziehen kann.
Wälder und duftende Bäume aller Art spenden Israel Schatten auf Gottes Geheiß.
Denn Gott führt Israel heim in Freude, im Licht seiner Herrlichkeit; Erbarmen und Gerechtigkeit kommen von ihm.
Evangelium: Mt 24, 6a.9-14a
Ihr werdet von Kriegen und Kriegsgerüchten hören.
Dann wird man euch der Not ausliefern und euch töten und ihr werdet von allen Völkern um meines Namens willen gehasst.
Und viele werden zu Fall kommen und einander ausliefern und einander hassen.
Viele falsche Propheten werden auftreten und sie werden viele irreführen.
Und weil die Gesetzlosigkeit überhand nimmt, wird die Liebe bei vielen erkalten.
Wer aber bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet werden.
Und dieses Evangelium vom Reich wird auf der ganzen Welt verkündet werden - zum Zeugnis für alle Völker.
Predigt:
„Liebe Christinnen und Christen in Ravensburg!“
Ich schreibe heute diesen Brief an Sie voller Dankbarkeit, weil uns alle der gemeinsame Glaube an den Schöpfergott verbindet und weil Ihre Landesregierung hier, in Baden Württemberg, mir die Möglichkeit gibt, noch einmal „Mensch zu werden“, nachdem mir von den fundamentalistischen Kämpfern des „Islamischen Staates“ jede Würde als Frau und als Mensch genommen worden war.
Aber zuallererst möchte ich Ihnen jetzt von mir und von meiner Familie erzählen:
Nadia Murad Basee Taha ist mein vollständiger Name, und ich bin 1993 in einem kleinen Dorf im Sindschar-Gebirge im Irak geboren.
Ich habe als Jugendliche auf den Gemüsefeldern mitgearbeitet und bin gerne am Ofen bei meiner Mutter gesessen und habe ihr zugeschaut, wie sie unsere Fladenbrote gebacken hat.
Am 3. August 2014 hat sich mein Leben völlig verändert:
Kämpfer des IS haben unser Dorf und noch andere jesidische Siedlungen überfallen: Tausende unserer Männer und Jungen wurden damals ermordet – darunter auch 6 Brüder von mir.
Auch meine Mutter hat das Massaker nicht überlebt, und ich selber bin mit tausenden anderer Frauen und Mädchen nach Mossul verschleppt worden.
Sie haben mich als Sklavin verkauft, und dann… kamen die Männer….
Ich möchte Ihnen in diesem Brief keine weiteren Einzelheiten über meine Gefangenschaft erzählen, weil sich diese Bilder in Ihre Seele einbrennen würden. Das möchte ich Ihnen nicht antun.
Monate später ist mir die Flucht gelungen:
Nachts bin ich durch Mossul geirrt und habe dann an die Tür eines Hauses geklopft, in dem kein Licht gebrannt hat.
Ich wusste, dass die Häuser der IS-Terroristen alle mit Strom versorgt waren.
Ich habe großes Glück gehabt:
Eine muslimische Familie, hat mir, der Jesidin, geholfen, aus Mossul in ein Flüchtlingslager im kurdischen Grenzgebiet zu fliehen.
Dort habe ich dann im März 2015 davon erfahren, dass Baden-Württemberg 1000 jesidische Frauen aufnimmt, die so viel Unmenschliches erlebt haben wie ich.
So bin ich nach Deutschland gekommen, damit ich wieder „Mensch werden“ kann – mit Würde und in Freiheit.
Ich lebe jetzt in der Nähe von Stuttgart, und mein Lebensziel ist es, die internationale Staatengemeinschaft davon zu überzeugen, dass unser jesidisches Volk vor den Verbrechen des IS geschützt werden muss.
Ich werde niemals dazu schweigen, was Frauen durch die IS-Terroristen angetan wurde und immer noch wird.
Ich setze mich für eine internationale Strafverfolgung dieser Verbrechen ein.
Und das tue ich für unser Volk, aber auch für alle Opfer von Menschenhandel in den Kriegen überall auf der Welt.“
O, Gott, lass Nadia Murad und alle, die ähnlich Schreckliches erleben mussten, endlich wieder zu Menschen werden!!
Wenn ich höre und lese, was der jungen Jesidin und all den anderen Frauen in den Kriegsgebieten als Sklavinnen und als zwangsverheiratete Frauen angetan wurde und immer noch wird, dann kann ich nur Schreien: Vor Entsetzen, aus purer Ohnmacht – schreien auch zu unserem Gott:
O, Gott, warum?
Wann werden wir Menschen endlich zu Menschen werden?!
Wann hören solche Verbrechen auf und wann fangen wir an, die Achtung der Menschenwürde zum obersten politischen Ziel zu erklären und eben nicht die eigene politische Macht und auch nicht den materiellen Gewinn??!!
Der Brief, den ich Ihnen gerade vorgelesen habe, ist von mir geschrieben worden, also fiktiv!
Ich möchte Sie, liebe Gemeinde auf diese Weise in Berührung bringen mit dem Elend und mit den Demütigungen, die jesidische Frauen und Mädchen auch heute noch im Irak aushalten müssen.
Und: Ich möchte Ihnen gleichzeitig von dieser mutigen Kämpferin für den Frieden unter den Völkern und unter den Religionen erzählen: Von der Jesidin Nadia Murad.
Die inzwischen 25-Jährige ist Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel.
Und in diesem Jahr ist ihr der Friedensnobelpreis verliehen worden.
Mich beeindruckt diese Frau, weil sie als gläubige Jesidin auf oberster politischer Ebene für ihr Volk und für ihre Ziele kämpft – mutig und voller Entschlossenheit, aber ohne Rachegedanken – so scheint es mir.
Sie redet vor den Vereinten Nationen, in verschiedenen Parlamenten und vor mächtigen Politikerinnen und Politikern.
Und immer wieder erzählt sie von ihren schrecklichen Erfahrungen und vom unermesslichen Leid, das so vielen Menschen im Irak angetan wurde, nur weil sie einer anderen Religion angehören und weil viele von ihnen kurdisch sprechen.
Die Jesiden und Jesidinnen sind eine religiöse Minderheit, die vor allem im Irak lebt – aber auch im Norden von Syrien, in der südöstlichen Türkei und in Armenien.
Die Wissenschaft ist sich nicht sicher, wo diese Religion ihre Ursprünge haben könnte.
Vermutlich ist das Jesidentum ungefähr 2000 Jahre älter als das Christentum, und es hat sich wohl aus dem Denken Zarathustras und aus dem iranischen Mithras-Kult entwickelt.
Die jesidische Religion kennt keine heiligen Schriften, aber Tradionen, die lange Zeit mündlich überliefert wurden.
Nordöstlich von Mossul befindet sich das wichtigste religiöse Zentrum ihrer Religion, und dort in der Region lebt auch ihr geistliches und weltliches Oberhaupt.
Als Jeside oder als Jesidin wird man geboren. Niemand kann zum Jesidentum konvertieren.
Das bedeutet aber: Es ist eine friedliche Religion, weil ja gar keine Andersgläubigen mit Gewalt zu ihrem Glauben gezwungen werden können.
Im Jesidentum finden sich Elemente aus dem Hinduismus – z.B. das Kastenwesen – aus dem Islam - z.B. die Beschneidung – und aus dem Christentum – z.B. das Besprengen mit Wasser bei Kindern, wie bei unserer christlichen Taufe.
Die Jesiden und Jesidinnen verehren 7 heilige Engel.
Der wichtigste von ihnen ist zugleich der Vermittler zwischen Gott und den Glaubenden.
Die radikalen Muslime sehen in diesem obersten Engel den gefallenen Engel – also den Teufel.
Und deshalb sind für sie alle Jesiden Teufelsanbeter – also Ungläubige!
Mit Ungläubigen aber – so wie sie von ihnen selber definiert werden, müssen radikale Muslime nicht menschlich umgehen – im Gegenteil:
Wer Ungläubige tötet, hat den direkten Weg ins Paradies gebucht!
Die Terrorgruppe IS hat also das Jesidentum zur heidnischen Religion erklärt und gleichzeitig das islamische Recht verbogen.
O, Gott, lass doch diese grausamen Verbrecher endlich zu Menschen werden!!!
Es ist unfassbar – zu welcher Un-Menschlichkeit Menschen auch heute noch imstande sind – und das im Namen ihres Gottes!!
Dabei gibt es genügend Situationen in der Menschheitsgeschichte, aus denen diese radikalen Verbrecher hätten lernen können!
Auch in unserem Evangelium, das sie vorher gehört haben, wird von Un-Menschlichkeit erzählt. Die gab es ganz offensichtlich auch schon zur Zeit Jesu.
Matthäus schreibt in unserem heutigen Bibeltext wörtlich:
„Dann wird man euch der Not ausliefern und euch töten und ihr werdet von allen Völkern um meines Namens willen gehasst.“
(Mt 24,9)
Und schon wieder Bilder des Schreckens!!
Matthäus schreibt sein Evangelium in einer Zeit, in der das jüdische Volk bereits die völlige Zerstörung des Tempels in Jerusalem erlebt hat.
Und es ist die Zeit, als in Rom durch den römischen Kaiser Nero bereits die ersten christlichen Gemeinschaften verfolgt wurden – nur, weil sie anders geglaubt haben, als er das wollte.
Also auch damals:
Schrecken, Verfolgung, Gewalt, Demütigungen und Tod!
O, Gott, noch einmal die Frage: Wie können wir jemals zu Menschen werden?!
Was muss passieren?
Matthäus, unser Evangelist schreibt wörtlich.
„Und weil die Gesetzlosigkeit überhand nimmt, wird die Liebe bei vielen erkalten.“
(Mt 24,12)
Es geht nur mit Liebe!!!
Wer Schrecken verbreitet, Frauen quält und Menschen demütigt, hat keine Liebe im Herzen.
Wenn aber eine Nadia Murad nach all dem Schrecken noch so viel Kraft und Mut hat, dass sie immer wieder darüber reden kann – auch vor den Mächtigsten der Welt – dann muss ihr Herz voller Liebe sein!
Bleibt dann aber die Frage, warum Nadia Murad nach all diesen erlittenen Verletzungen so viel Liebe in sich hat!!
Es gibt eine Stelle in der Bibel, da beschreibt der Evangelist Markus, was all diejenigen erleben werden, die Unmenschliches ertragen müssen, weil sie Jesus nachfolgen.
Markus lässt Jesus folgendes sagen:
„Ihr aber, macht euch darauf gefasst: Man wird euch um meinetwillen vor die Gerichte bringen, in den Synagogen misshandeln und vor Statthalter und Könige stellen…dann macht euch keine Sorgen, was ihr sagen sollt….Denn nicht ihr werdet dann reden, sondern der Heilige Geist.“
(Mk 13,9ff)
O, Gott, kann es sein, dass wir immer dann mehr zu Menschen werden, wenn wir der Liebe in uns selber Raum geben – und so auch deiner göttlichen liebenden Kraft??!!
Ich bin mir sicher:
All diejenigen Verbrecher – von Kaiser Nero bis zu den Terroristen des IS – die ihre Macht auf der Erniedrigung anderer Menschen aufbauen, können sich so oft sie wollen auf ihren Gott oder auf ihre Götter berufen, sie haben weder göttliche Ideen im Kopf, noch göttliche Liebe in sich.
Und sie stehen der Menschlichkeit und dem Gott des Jesidentums, dem Gott des Islam und unserem christlichen Gott auf den Straßen der Menschlichkeit brutal im Weg!!!
Eine Nadia Murad dagegen ist für mich eine Prophetin der Menschlichkeit in unserer Zeit, die mit über-menschlichen Kräften alles tut, damit erniedrigte Frauen wieder aufstehen und „ich“ sagen können.
Liebe Gemeinde,
„O, Gott, Mensch werden?!“
Ich ahne, dass uns Menschen das nur dann gelingen kann, wenn wir eine Liebe in uns tragen, die größer ist als alle Angst und als jeder Hass und die schreckliche Gier nach Macht.
Vielleicht sind wir alle hier nicht so mutig und nicht so stark wie eine Nadia Murad, aber vielleicht erinnern Sie sich an diese beeindruckende Frau, wenn von Ihnen Mut und politisches Durchsetzungsvermögen erwartet wird – wo auch immer.
Und:
Bei Nadia Murad gehören Spiritualität und Politik immer zusammen - und das ist ganz im Sinne Jesu!
Sie hören jetzt zum Schluss noch einmal Nadia Murad in ihrem Brief an uns alle.
Aber jetzt sind es ihre eigenen Worte – gesprochen 2016 im Landtag von Baden-Württemberg:
„Ich habe erfahren, dass Vertreter aller Parteien…im Jahr 2014 diesem Sonderkontingent für schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak zugestimmt haben. Sie alle haben sich für die Menschlichkeit entschieden.
Auch die Städte und Gemeinden in Baden-Württemberg, die uns aufgenommen haben, haben dies freiwillig getan.
Ich möchte allen Mitarbeitern und vor allem den Sozialarbeiterinnen, Dolmetscherinnen und Ehrenamtlichen für ihre wertvolle Arbeit und Unterstützung danken. …
Wir wissen, dass die Kirchen dieses Landes aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben, dass sie den Dialog mit Andersglaubenden suchen, dass sie Bedürftigen mit Liebe begegnen und Hassprediger in ihren Reihen nicht mehr dulden.
Wir Aufgenommenen wissen, dass wir ein Teil von Deutschland werden können, wenn wir die Gesetze achten, die Sprache lernen und mitarbeiten. …
Deutschland ist vielen von uns zu einem Segen geworden; noch in Generationen wird man daran denken.
Und wir wollen alles dafür tun, dass auch wir wiederum zu einem Segen für Sie werden können.“
(Nadia Murad, Rede im Landtag von Baden-Württemberg, 1.12.2016)
Amen.
© A. Böhm, 2018
HIER finden Sie die Predigt im pdf-Format.