Katholische Seelsorgeeinheit Ravensburg West

Pfarrbüro der Seelsorgeeinheit
Ravensburg West
Schwalbenweg 5
88213 Ravensburg

Tel. 0751-7912430
Fax 0751-7912440
E-Mail: Info-Dreifaltigkeit.RV@drs.de

 

 

1. Advent: "Fühlen"

Lesung:  1 Kön 19, 9 – 13

Dort ging er in eine Höhle, um darin zu übernachten. Doch das Wort des Herrn erging an ihn: Was willst du hier, Elija?
Er sagte: Mit leidenschaftlichem Eifer bin ich für den Herrn, den Gott der Heere, eingetreten, weil die Israeliten deinen Bund verlassen, deine Altäre zerstört und deine Propheten mit dem Schwert getötet haben. Ich allein bin übrig geblieben und nun trachten sie auch mir nach dem Leben.
Der Herr antwortete: Komm heraus und stell dich auf den Berg vor den Herrn! Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben.
Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln.
Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle.    (Einheitsübersetzung)

Evangelium: Matthäus 9,20-22

Da trat eine Frau, die schon zwölf Jahre an Blutungen litt, von hinten an ihn heran und berührte den Saum seines Gewandes; denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt.
Jesus wandte sich um, und als er sie sah, sagte er: Hab keine Angst, meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Und von dieser Stunde an war die Frau geheilt.  (Einheitsübersetzung)

Predigt:

Mensch werden – mit allen Sinnen!
Das ist das Thema, mit dem wir in diesem Jahr die Adventszeit gestalten werden.
Mensch werden – aha  …
Aber das bin ich doch schon: ein Mensch – werden Sie einwenden.
Was ist also zu tun – jetzt in diesem Advent?
Die Botschaft von Weihnachten heißt ja unmissverständlich, dass Gott Mensch geworden ist in Jesus von Nazareth, einer von uns also!
Wenn Gott – in unserem Christentum – Mensch wird, dann hat das die religiöse Praxis der Menschen zur Zeit Jesu radikal in Frage gestellt.
Dieser Gedanke darf nämlich nicht gedacht werden! Gott muss absolut unantastbar und jenseitig bleiben, damit er Gott sein kann – so ist das Denken dieser Zeit.
Die Christen haben ja noch einige Jahrhunderte gebraucht, bis sie sich zu diesem Glaubenssatz durchgerungen haben, dass Jesus wahrer Gott und wahrer Mensch gewesen sei.
Dieser Satz gilt bis zum heutigen Tag und macht manchen Christen richtig Mühe. Auch Juden und Muslime reiben sich an dieser Glaubensaussage.
Die Evangelisten bemühen sich schon gegen Ende des ersten Jahrhunderts, diesen Gedanken immer wieder ins Wort zu fassen. Sie stützen sich dabei auf diese mächtigen Erfahrungen der Jüngerinnen und Jünger Jesu nach der Kreuzigung. Diese Frauen und Männer bezeugen unter Einsatz ihres Lebens, dass Jesus nicht im Tod geblieben ist. Sie verkünden, dass Jesus durch Gott auferweckt worden ist!
Sie verkünden, dass damit das verheißene Reich Gottes schon angebrochen ist.
Sie verkünden, dass Gott unter den Menschen unmissverständlich handelt.
Sie verkünden, dass dieses Handeln Gottes für alle spürbar wird, die sich auf die Nachfolge Jesu einlassen.
Sie verkünden, dass dieser Gott ein Gott mit den Menschen ist. ER ist ein Gott der Lebenden und nicht der Toten!
Vielleicht denken Sie jetzt: das weiß ich doch schon, das ist doch alles nichts Neues!
Ja, für unser heutiges Verständnis ist das wirklich nichts Neues.
Aber für die Menschen zur Zeit Jesu ist das ein Angriff auf ihre Religion, auf ihre Werte, auf ihre Normen, auf Ihre Konventionen und Gesetze.
Da gibt es heftige Reaktionen der herrschenden Priesterschaft und der Theologen.
Theologen, das waren die Pharisäer und die Sadduzäer, allerdings mit unterschiedlichen Positionen im Blick auf die Auferstehung.
Aber sie waren sie sich einig, dass ihr Gott niemals Mensch geworden sein kann, weil das seinem Wesen zutiefst widerspricht.
Jetzt fragen Sie sich wahrscheinlich, was das alles mit unserem Thema zu tun hat: Mensch werden – mit  allen Sinnen.
Nun, ich wollte Sie mit der Situation der Menschen am ausgehenden 1. Jahrhundert ein bisschen vertraut machen, dass das Evangelium verständlich wird.
Mit dem heutigen 1. Advent beginnt in der Kirche wieder das Matthäusjahr. Das bedeutet, dass das Evangelium des Matthäus in der Liturgie verwendet wird, außer an den Hochfesten, in der Fastenzeit und in der Osterzeit.
Matthäus legt den Schwerpunkt seines Evangeliums darauf, dass er seiner Gemeinde, für die er sein Evangelium schreibt, deutlich machen will, dass Jesus der verheißene Messias ist, der mit der Vollmacht Gottes Menschen geheilt hat. Er schreibt hauptsächlich für Christen, die aus dem Judentum kommen und damit mit den Vorschriften und Regeln des Judentums vertraut sind.
Ich habe Ihnen heute die Stelle von der Heilung der Frau heraus gegriffen, die seit 12 Jahren an Blutungen leidet.
Dabei geht es mir um den Tastsinn, den unser Thema heute in den Mittelpunkt stellt.

Ich erinnere noch einmal an die Szene:
Die Frau tritt von hinten an Jesus heran und greift nach dem Saum seines Gewandes – in der Hoffnung, dass sie so von ihrem unerträglichen Leiden geheilt wird. Sie will Jesus selbst gar nicht berühren. So weit reicht ihr Mut nicht.
Was hier in diesen wenigen Sätzen geschildert wird ist eine Ungeheuerlichkeit.
Diese Frau verletzt hier ein absolutes Tabu, das da heißt:
Ein Frau, die ihre Tage hat oder eben unter Blutungen leidet ist kultisch unrein und alles was sie berührt, wohin sie sich auch setzt, wird unrein. Wenn nun jemand mit der Frau oder mit so einem Ort, den so eine Frau berührt hat, in Berührung kommt, wird auch dieser Mensch kultisch unrein.
Wenn sie sich nun Jesus nähert, mit der Absicht, ihn zu berühren, dann wird auch Jesus kultisch unrein und muss sich erst wieder durch das Reinigungsritual reinigen, damit er z.B. den Tempel wieder betreten darf.
Was hier in diesem kurzen Evangelium aufscheint ist eine Moral und ein Wertesystem, das die Frauen benachteiligt. Frauen gelten in diesem patriarchalen, d.h. von Männern bestimmten Denksystem allgemein als minderwertig und sündig.

Entgegen diesem Denken verhält sich Jesus ganz anders. Er hat einen offenen und unverkrampften Umgang mit Frauen.
Diese Freiheit bezieht er aus seiner tiefen Überzeugung, dass Gott, sein Vater, ein Gott ist, der vorbehaltlos alle Menschen – ob Frauen oder Männer – gleichermaßen liebt.
Diese Ãœberzeugung lebt er aus in einer herzlichen Menschlichkeit. Und das wiederum ist das, was die Menschen um ihn herum fasziniert.
Jesus lässt sich nicht zurückhalten durch Gesetze oder Konventionen. Immer wieder wird er auch in anderen Heilungsgeschichten ‚handgreiflich’.
Er berührt Kranke, Blinde, Ausgestoßene und öffentliche Sünder und macht ihnen dadurch wieder ihre Würde bewusst, dass sie alle von Gott geliebt sind.
Die Botschaft vom angebrochenen Reich Gottes wird spürbar in der menschlichen Zuwendung zu den Mühseligen und Beladenen dieses Mannes aus Nazareth.
In unserem Evangelium durchbricht die Frau mit dem Mut der Verzweiflung das herrschende Tabu dieser unbarmherzigen Männerwelt.
Im selben Moment, in dem sie das Gewand Jesu fühlt, fühlt sie auch wie sie geheilt wird. Ihr Vertrauen wird belohnt!
Und was Jesus in dieser Situation tut ist, dass er dieses ‚Wunder der Heilung’ nur noch bestätigen kann.
Allerdings sind die Worte: „Fass Mut“ noch wirklich notwendig.
Mit dem bewussten Tabubruch hat sie nämlich eine schwere Sünde begangen. Mit diesem erlösenden Wort Jesu wird sie ermutigt, nicht nur aus so einer absoluten Notsituation den Mut zu so einer Handlung aufzubringen, sondern auch in anderen Situationen ähnlich zu handeln.
Hier wird den Menschen in der Gemeinde des Matthäus deutlich gemacht:
Was dem Menschen dient, was Menschen heilt, was ihnen zum Leben verhilft, das kann nicht gegen den Willen Gottes sein!
Das aber ist eine radikale Kritik an dieser Denkweise der Frommen, dass jemand, der/die krank ist, von der Gemeinschaft mit Gott, also vom Kult und von den offiziellen Formen der Gottesverehrung ausgeschlossen werden darf.
Anders formuliert:
Gott, so wie ihn Jesus verkündigt, darf niemals dazu missbraucht werden, Menschen in ‚rein’ oder ‚unrein’ einzuteilen.
Bei dieser Frau in unserem Evangelium geschieht also mit dieser Heilung und mit diesem Wort, das ihr Mut macht, Mensch-Werdung im eigentlichen Sinn.
In der Berührung mit Jesus spürt sie die Gegenwart Gottes.
Sie darf sich wieder als Frau spüren ohne jedes Gefühl von Minderwertigkeit.
Der Bruch dieses Tabus, des absoluten Berührungsverbotes, ist ihr zum Heil geworden.
Bleibt uns heutigen Christen die Aufgabe unser eigenes religiöses System auf solche Tabus hin zu überprüfen.
Auch in unserer Kirche gibt es solche Regeln und Gesetze, die Menschen genauso von den offiziellen Formen der Gottesverehrung und dem Leben in der Gemeinschaft ausschließen. Ich nenne da nur als Stichworte die Menschen, die nach einer Scheidung wieder geheiratet haben, Priester, die aus dem Amt scheiden mussten, weil sie geheiratet haben, Homosexuelle, die in ihrer Veranlagung so nicht sein dürfen in der Kirche usw.
An diesen Beispielen merken Sie, wie aktuell das Evangelium bis zum heutigen Tag ist.
Ich wünsche Ihnen gute Gedanken, wenn Sie noch einmal über die heilsame Energie nachdenken, die von der Berührung mit Jesus ausgeht.
Und dann wünsche ich Ihnen viele solche heilsamen Berührungen mitten in Ihrem Leben.

Amen.

© R. Hübschle 2010

 

HIER finden Sie die Predigt im pdf-Format.